Deutschland entspannt sich - Christoph Saunus

Nachdem die einst in den achtziger Jahren über den großen Teich herübergeschwappte Fitness-Welle made in USA auf dem alten Kontinent allmählich verebbt, spült nunmehr in Phase Nr. 2 eine wahre Wellness-Sintflut aus Übersee erneut unaufhaltsam Wohlbefinden in die deutsche Freizeitszene. „Wellness, der Formel 1 Turbo im boomenden Freizeitmarkt", so oder ähnlich kann man die derzeitige Situation der Bäderbranche auf den Punkt bringen.

Alles Wellness oder was?

Die rituale Fitness-Askese in schweißtreibenden Kraftmaschinen-Powerparks ist endgültig tot - es lebe die Wellness-Völlerei als Treibstoff für Lebenslust, so die unüberhörbare Werbebotschaft der innovativen Wohlfühlschmiede über ihren neuen Hoffnungsträger. Wellness ohne Ende als derzeitige Königsdisziplin der Freizeitbranche ist Lifestyle, Happening, ist Party und Fun zugleich. Erleben, genießen, fühlen, entspannt die Mitte suchen und finden, um die Balance zwischen Körper und Seele in harmonischen Einklang zu bringen. Diesen Trend prognostizieren uns jedenfalls die Wellness- Strategen für die Zukunft. Statt körperdeformierendem Mastpillenschlucken bis hin zur exhibitionistischen Schockästhetik oder selbstkasteiendem Fitness-Schuften in Muckibuden bis zum obligatorischen Riss in der Festplatte ist locker entspanntes Konditionstraining je nach Lust & Laune, ohne Stress und Muskelkater in angenehmer Wohlfühl-Atmosphäre angesagt. Und so wird die aus der Neuen in die Alte Welt herübergeschwappte Welle euphorischen Wohlgefühls immer länger und länger, und die Wellness-Flaschenpost aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten mutiert zweifelsohne zur ökonomischen Trägerrakete der profitorientierten Freizeitindustrie. Hochglanzmagazine wie „Fit for Fun" oder „Men's Health" leisten bei der neuen Lust auf einen gesunden Körper hilfreiche Zusatzdienste. Reiche und zugleich körperlich „Nichtmehr-ganz-so Schöne" bedienen sich heute bereits eines ganz persönlichen Trainers, der mit entsprechendem Gütesiegel 120 bis 180 Mark die Stunde kostet. Somit dürfte der Freizeitbereich wohl die einzige Branche mit serienmäßig eingebauter Sollbruchstelle sein, indem sie mit ständig neuen Attraktionsangeboten immer wieder innovative Freiräume für kreatives Handeln schafft. Folglich lautet die gängige Wellness-Zauberformel als Treibsatz für körperliches Wohlbefinden: Gesundheitspflege + Konditionssteigerung = Lebensfreude.

Mit aufgemotztem Wort-Design

Damit der emotionale Schöpfungsakt auch PR-mäßig richtig abfährt, bedient man sich in Wellness-Kreisen eines (ab)gehobenen Kultvokabu-" lars. Doch Vorsicht! In Zeiten der Globalisierung werden, wie nicht anders zu erwarten, mit aufgemotzten Wortkanonen permanent anglophile Sprachbrocken auf die ahnungslose Kundschaft abgefeuert. Beautiful-Body-Softies, die über körperliche Runderneuerung und seelische Salbungen aller Art fachkundig mitreden wollen, sind daher gut beraten, sich beizeiten mit dem trendigen Wort- Design vertraut zu machen, um sich im babylonischen Sprachlabyrinth zurechtzufinden. Denn nach dem Einchecken mittels Come-in Key-Cards öffnet der Counter automatisch den Direktweg ins Wellness-Entertainment zum Nonstop-Bodysurfen in der hochgestylten Snow- Company. Wer im hochmodern aufgerüsteten High-Technology- Park nach kraftvollem Stemmen und ausdauerndem Abstrampeln in unverwechselbarer Ganz-entre-nous-Atmosphäre endlich den ersehnten Kick-off erreicht, nach dem Workout völlig entspannt in der trendigen Spa-Location noch einen whirlenden MegaEvent im Ergo-Pool hinter sich gebracht hat und dann während der transpirierenden, sorry, inspirierenden Schweiß-Eruption im Sauna- Power-Package noch einen Surprise-Act in der Youth- Only-Zone bestaunen durfte, der ist endgültig adrenalingesättigt auf der Höhe der Zeit angekommen. Weitere Lifestyle-Specials im Wellness-Guides: Beauty und Body-Care zur Outfit- Restaurierung, Aerobic- Masterclass-Events als Stretching, Spin-Racing, Indoor- Cycling und Freeclimbing zur Konditionssteigerung sowie orientalische Relaxbäder und asiatische Meditationen im Zen-Garten für seeli sehe Totalentspannung bis in den letzten Winkel des Körpers.

Body-Kult als zwingendes Statussymbol

Nachdem die Zeit in unserer gnadenlosen Industriegesellschaft inzwischen zum Luxusguthaben geworden ist, gilt es, sie auch sinnvoll zur persönlichen Körperertüchtigung zu nutzen, um in der volkswirtschaftlichen Verwertungskette nicht als Loser dazu stehen. Denn bekanntlich macht man die ersten, alles entscheidenden Punkte mit Outfit. Die Folge ist eine universale Zeitgeistdenke, die sich mit provokanter Sinnlichkeit nur noch am hemmungslosen Leibeskult orientiert. Das richtige Aussehen ist heute keine Frage mehr, sondern eine Antwort auf die sich ständig wandelnden Ansprüche unserer Erlebnisgesellschaft. Immer gut drauf sein, dynamisches Aussehen und makellose Körperfigur mit aufregender Ideallinie gelten inzwischen als unmissverständliche Standards, um in einer weitgehend uniformierten Gesellschaft privat und beruflich stets konkurrenzfähig zu sein. Bei der Suche nach dem ewigen Glück als „fünftes Element" versprechen sich daher trendbewusste Karrieristen mit Zeitgeist-Outfit bessere Aufstiegschancen und Zukurzgekommene, nach diversen durchlittenen Schreckensvisionen endlich auf der Gewinnerstraße zu landen. Nachdem das Lustelement Badewasser bereits merklich abgestanden, mit wenig Tiefgang und kaum Frische in die Breite zu fließen drohte, bietet sich die unaufhaltsam rollende Wellness-Welle hervorragend als willkommener Rettungsanker für die ins Mittelmaß absinkende Schwimmbad- Branche an. Dass auch die Aqua-Zunft die ihr im Fahrwasser des Freizeit-Flaggschiffes Wellness gebotene Chance in hervorragender Weise genutzt hat - traumhaft schöne Schwimmbäder zum Pool-Wohlfühlen sind heute ein Wellness-Muss - belegen nicht zuletzt die eindrucksvollen Zuwachsraten. Und dieses in einer Zeit, wo die in der Talsohle befindliche Baubranche, sportlich formuliert, unter wirtschaftlichen Konditionsproblemen leidet.

Wieviel Wellness braucht der Mensch?

Da der ökonomische und ökologische Ablasshandel mit dem Körper in der Freizeitbranche zwangsläufig ständig neue Begehrlichkeiten weckt, bleibt es auch nicht aus, dass immer mehr ausländische Studioketten mit aggressivem Marketing auf der Wellness- Dauerwelle im äußerst profitablen Erlebnispark Deutschland aktiv mitschwimmen wollen. Schließlich beläuft sich das Geschäftsvolumen mit dem boomenden Körperkult jährlich auf über 4 Milliarden Mark. Tendenz steigend, diagnostizieren sowohl der Verband Deutscher Fit ness & Freizeitunternehmer (VDF) als auch einvernehmlich der Deutsche Sportstudio Verband (DSSV). Dass bei diesem lukrativen Muskelspiel mit beinhartem Dumpingpreis-Verdrängungswettbewerb heimischen Einzelkämpfern sowie auch etlichen Mittelständlern über kurz oder lang konditionsmäßig die Luft ausgehen wird, stört weder Healthland Germany, eine weltweit tätige Tochter des südafrikanischen Freizeitkonzerns Leisure Net, noch den britischen Freizeit-Marktführer und international präsenten Gastronomieriesen Whitbread (Maredo, Churrasco). Und da bekanntlich aller guten Dinge drei sind, gesellt sich zu den beiden finanzstarken Multis auch noch die clevere Schweizer Discounter- Studiokette Swiss Training mit der Absicht, in den kommenden Jahren ein Budget in Milliardenhöhe in gigantische Körperkult-Freizeittempel zu pumpen. Diese „Invasion der fitten Art" kommt jedoch nicht von ungefähr: Hierzulande sind nämlich derzeit nur fünf Prozent der Bürger Mitglied in einem Fitness-Studio und in USA und Großbritannien hingegen bereits mehr als zehn Prozent. Beim überschlägigen Bilanzieren des geradezu erschreckenden Wachstums-Reservoirs ergibt sich eine schockierende Goldgräber- Bilanz, die sich sehen lassen kann. Mit mehr als 50 Franchisebetrieben und über 100 000 Mitgliedern setzt Swiss Training mit geschicktem Last-Minute-Preisdumping bereits jetzt schon 65 Millionen Mark alleine in der Bundesrepublik um. Healthland plant im großen Stil bis Ende 2001 in Deutschland 30 moderne Fitness-Center, zehn davon in Berlin und vier in Hamburg, der Hochburg der deutschen Fitness-Szene. Und das, obwohl die mittelständische Meridian- Gruppe, eine deutsche Ausnahmeerscheinung, in der norddeutschen Hansestadt sehr gut positioniert, bereits erfolgreich drei exklusive Wellness-Studios mit insgesamt 13 000 Mitgliedern betreibt.

Wellness-Packungen für Kassenpatienten

Doch damit nicht genug. Die einst in Amerika auf der reinen Gesundheitsvorsorge basierende Wellness- Anglophonie hat nach einigen Jahren Nachlaufzeit nunmehr auch unser bereits teilweise am Tropf hängendes Gesundheitswesen erreicht. Der vom amerikanischen Arzt Haibert Dunn 1989 kreierte Wortbegriff Wellness setzt sich zusammen aus „wellbeing" (Wohlgefühl) und „Fitness". Danach sollen Körper und Seele als ganzheitliche Symbiose harmonieren. Oder wie die alten Lateiner sagen: „Mens sana in Corpore sano." In diesem Sinne bieten nicht nur immer häufiger krisengeschüttelte Viel-Sterne-Hotels und moderne Trend- Erlebnisbäder zusätzliche Wellness-Dienste als lukrative Wohlfühl-Tanke für Körper und Seelen an. Auch die Kurbäder und Sanatorien schwimmen neuerdings außerhalb ihres Sperrgebietes mit der (Über)Lebensdevise „Genussvolles Wohlbehagen im harmonischen Einklang mit sanfter Bewegung" kräftig auf der boomenden Wellness-Welle mit.

Die Leiblichkeit, das schlechte Gewissen

Die Folge unseres Wohlstandsstress mit einhergehender Sinnkrise wird in ihrer ganzen Tragweite nirgends so augenfällig wie beim beschaulichen Betrachten der eigenen Gewichtigkeit. Folglich findet der eitle Bundesbürger - wer ist das nicht - den morgendlichen Offenbarungseid beim fassungslosen Drama-, Pardon, Panorama-Rundumblick in den Spiegel und auf die gewichtsverleihende Personenwaage wie einen „ultimativen" Härtetest als sogenannte Anleitung zum Unglücklichsein. Genau dort, an der deprimierenden Schmerzgrenze, beim sogenannten „spezifischen Gewicht" will der moderne Kurund Heilbäder-Service den dringend angesagten Fettabbau auf Touren bringen. Nach der wiedergewonnenen „Fassung" ist jedoch weitere „technische Hilfe" angesagt. Deshalb möchte das zum neuen Dienstleister gewandelte Gesundheitswesen mit einem breit gefächerten Wohlfühlangebot als ganzheitliche Prävention gegen typische Allerweltsleiden - der Mensch hat schließlich 215 Knochen und 400 Skelettmuskeln - völlig neue Wertmaßstäbe setzen. Der plötzliche Sinneswandel im klassischen Heilwesen kommt allerdings nicht von ungefähr. Als Antwort auf die existenzgefährdenden Auswirkungen der Gesundheitsreform von 1996 war man gezwungen, mit dem verstaubten Senioren-Wallfahrtsstätten-Image gründlich aufzuräumen. Bei der unausweichlichen Marktbereinigung galt es, solche Zielgruppen neu zu erschließen, die ihren Kuraufenthalt nicht, wie früher üblich, bequem klassenlos zum Nulltarif in Anspruch zu nehmen pflegten, sondern bereit sind, als Selbstzahler für verbesserte Lebensqualität ihren persönlichen Beitrag in der First Class beizusteuern. Immer mehr Kurbäder, Sanatorien, Rehazentren, noble Luxus-Hotels und selbst kleinste Urlaubsorte schmücken sich erfolgreich mit dem wohlklingenden Art-deco-Modebegriff  Wellness als Überlebens-Elixier.

Christoph Saunus

Schwimmbad & Sauna  5-8/2000